Die Revolution der Beziehung - Jenseits von Liberté, Égalité, Fraternité

Rückbesinnung und Neuentwurf

Den vielen Weggefährtinnen und Weggefährten gewidmet.

Am 14. Juli 1989, genau 200 Jahre nach dem Sturm auf die Bastille, gründeten vier Studenten fast zufällig ein kleines IT-Unternehmen. Wir hatten den Mut – und die Naivität – zu glauben, dass die Ideale der Französischen Revolution auch unser unternehmerisches Handeln leiten könnten: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

Über die Jahre entwickelten sich daraus zwei prosperierende Unternehmen. Die technologische Innovation florierte, wir schufen Arbeitsplätze und trugen zur digitalen Transformation bei. Mein Unternehmen konzentrierte sich dabei stark auf digitale Kollaboration und Transformationsprozesse.

Doch über die Jahre wurde immer deutlicher, dass viele Konzepte und Umsetzungsversuche an der Oberfläche blieben. Die digitale Revolution versprach Vernetzung, schuf aber oft neue Formen der Isolation. Sie versprach Effizienz, führte aber mit zu jener »aggressiven Weltbeziehung«, die heute unsere Zeit prägt. Vor einigen Jahren bin ich aus meiner Firma ausgestiegen, die in der Zwischenzeit mit drei anderen IT-Unternehmen fusioniert war, und habe mich auf psychologische Beratung fokussiert. Dabei wiederentdecke ich – fast wie ein Heimkommen – die Philosophie, die meine kurze, aber prägende Studienzeit bei den Jesuiten geprägt hatte.

Ein paar meiner aktuellen Gedanken möchte ich anlässlich des 14. Juli heute mit euch teilen.

Venedig - wo Stabilität aus Verbindung entsteht. (November 2023).

Die Grenzen des liberalen Modells

Was ist aus den drei großen Idealen geworden? Liberté reduzierte sich auf negative Freiheit - das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. Égalité gibt es nur noch in Sonntagsreden. Fraternité verschwand fast völlig aus dem politischen Vokabular, weil sie sich nicht in Rechte und Pflichten übersetzen ließ.

Das liberale Denken von Hobbes bis Rawls konstruiert Gesellschaft als Vertrag zwischen autonomen Individuen, die ihre Eigeninteressen durch wechselseitigen Nutzen koordinieren. Diese „Tauschgerechtigkeit“ funktioniert, solange – wie John Rawls schreibt – „mäßige Knappheit“ herrscht und genug für alle da ist.

Doch was geschieht, wenn die Ressourcen schwinden? Wenn der ökologische Kollaps droht? Wenn Gesellschaften sich spalten? Dann zeigt sich die fundamentale Schwäche des liberalen Modells: Es kann Freiheit und Gleichheit garantieren, aber nicht Brüderlichkeit. Denn echte Solidarität setzt Menschen voraus, die sich für andere verantwortlich fühlen – nicht nur für sich selbst.

Das Primat der Verantwortung

Hier kommt Emmanuel Levinas ins Spiel, der französisch-litauische Philosoph, dessen radikale Ethik eine gänzlich andere Anthropologie entwirft. Für Levinas ist der Mensch nicht primär ein freies, autonomes Wesen, sondern ein verantwortliches.

„Das Primat der Verantwortung gegenüber der Freiheit“, wie es seine Interpretin Corine Pelluchon formuliert, bedeutet eine Revolution im Verständnis des Subjekts. Nicht: Erst bin ich ein souveränes Individuum, dann übernehme ich Verantwortung. Sondern: Die Verantwortung für den Anderen konstituiert mich allererst als Person.

Diese Verantwortung entsteht nicht durch rationale Entscheidung oder Vertrag, sondern durch die konkrete Begegnung mit dem Anderen. In seinem Gesicht, seinem Leiden, seiner Verletzlichkeit sehe ich nicht nur ihn, sondern „die ganze Menschheit“, die mich anschaut. Der Andere „ruft mich an“ – und in dieser Anrufung entsteht meine Identität als verantwortliches Wesen.

Das ethische Paradox

Pelluchon zeigt dies am Beispiel der medizinischen Begegnung: Seine Würde ist nicht abhängig von dem Urteil, das der professionell damit Befasste über ihn fällt. Dennoch sind die Art und Weise, wie der Kranke aufgenommen wird, und die Achtung, die ihm entgegengebracht wird, entscheidend. „Die Würde des Anderen ist nicht relativ zu meinem Gesichtspunkt, sondern ich verbürge mich dafür. Das ist das das ethische Paradox, das die klinische Situation besonders deutlich ans Licht bringt.“

Die Struktur des Paradoxes:

  • Die Würde existiert unabhängig von meiner Anerkennung

  • Aber meine Haltung ist dennoch entscheidend für deren Realisierung

  • Ich verbürge mich für etwas, was ich nicht schaffen kann

Diese Struktur gilt für alle zwischenmenschlichen Begegnungen: Die Würde, die Einzigartigkeit, das Menschsein des Anderen ist objektiv da - aber es zeigt sich nur in der ethischen Beziehung. Ohne diese Bereitschaft, „getroffen zu werden“, entsteht keine wirkliche Begegnung.

Beschleunigung versus Begegnung

Diese philosophische Alternative wird dringend, wenn wir Hartmut Rosas Diagnose unserer Zeit ernst nehmen. Die moderne kapitalistische Gesellschaft funktioniert durch „dynamische Stabilisierung“ – sie muss permanent wachsen, beschleunigen, innovieren, um zu überleben. Das erzeugt eine systematisch „aggressive Weltbeziehung“: Alles wird zur Ressource, die verfügbar gemacht, optimiert, ausgebeutet werden soll.

Menschen werden zu Humankapital, Natur zu Rohstofflieferant, Beziehungen zu Netzwerken für den eigenen Vorteil. Rosa spricht von der Illusion, „alles verfügbar machen“ zu können – mit dem paradoxen Resultat „monströser Unverfügbarkeit“ wie Klimakrise, Pandemien, Kriege.

Hier zeigt sich die Aktualität von Levinas' Ethik. Seine „Asymmetrie“ ist das genaue Gegenteil der kapitalistischen Verfügbarmachung. Der Andere „entkommt mir und lässt mich nicht entkommen“ – er ist grundsätzlich unverfügbar, aber berührt mich dennoch existenziell.

Eine neue Trinität: Verletzlichkeit, Verantwortung, Gerechtigkeit

Die Ideale von 1789 brauchen eine radikale Neubestimmung. Liberté, Égalité, Fraternité entstanden aus dem Kampf gegen feudale Unterdrückung. Heute brauchen wir Begriffe, die der Condition humaine des 21. Jahrhunderts entsprechen.

Pelluchon entwickelt aus Levinas' Ethik eine „dreifache Erfahrung der Andersheit“:

Verletzlichkeit (als Vertiefung von Liberté): Nicht die Illusion autonomer Souveränität, sondern die Anerkennung unserer grundlegenden Angewiesenheit aufeinander. „Das Leben ist Leben wider das Leben“ – wir sind alle sterblich, alle können leiden, alle brauchen andere. Diese Verletzlichkeit ist nicht Schwäche, sondern das Fundament echter Begegnung. Wie Levinas schreibt: „In seiner Haut unwohl, in seiner Haut, seine Haut nicht für sich habend“ – diese existenzielle Unbehaustheit öffnet uns für den Anderen.

Verantwortung (als Vertiefung von Égalité): Nicht formale Gleichberechtigung vor dem Gesetz, sondern die Erkenntnis, dass meine Identität durch die Antwort auf den Anderen entsteht. „Die Verantwortung ist nicht gewählt“ - sie befällt mich, bevor ich handle. Ich bin, indem ich antworte. Das ist radikale Asymmetrie: Ich bin für den Anderen verantwortlich, ohne dass er mir gegenüber in derselben Verpflichtung steht.

Gerechtigkeit (als Vertiefung von Fraternité): Das Band zwischen Ethischem und Politischem. Von der individuellen Begegnung mit „dem Anderen“ zur gesellschaftlichen Verantwortung für "die Anderen". Nicht appellative Brüderlichkeit, sondern die gerechte Organisation von Gesellschaft aus Verantwortung heraus.

Stellvertretung als politischer Schlüssel

Levinas entwickelt den radikalsten Begriff: die „Stellvertretung“. Ich bin nicht nur verantwortlich für den Anderen, sondern stellvertretend – ich übernehme seine Last, leide für ihn und durch ihn. Wie Pelluchon zeigt: „Die Unbedingung der Geisel ist nicht der Grenzfall der Solidarität, sondern die Bedingung jeglicher Solidarität.“

Das überwindet die liberale Tauschlogik: Solidarität entsteht nicht durch wechselseitigen Nutzen, sondern durch die Bereitschaft zur stellvertretenden Verantwortung. Nur so kann Gemeinschaft auch unter Bedingungen der Knappheit bestehen.

Andere Zweckhaftigkeit des Staates

Diese anthropologische Revolution hätte radikale politische Konsequenzen. Wenn Gesellschaft nicht auf dem Vertrag autonomer Individuen beruht, sondern auf ursprünglicher Verantwortung, dann sind die Aufgaben des Staates andere.

In der Klimapolitik: nicht nur technische Lösungen und Marktmechanismen, sondern die Einsicht, dass „unser gutes Recht zu existieren“ Grenzen hat „im Namen der Rechte aller Anderen“ – einschließlich zukünftiger Generationen und anderer Lebewesen. Asymmetrische Verantwortung der reichen Länder für die Folgen des Klimawandels.

In der Sozialpolitik: nicht nur Umverteilung nach dem Prinzip der Tauschgerechtigkeit, sondern die Schaffung von Räumen, in denen Menschen einander als Gesichter begegnen können – nicht als Fälle, Klienten, Humankapital. Institutionen müssen ethische Begegnungen ermöglichen.

In der Migrationspolitik: nicht nur Interessenabwägung zwischen „unseren“ und „deren“ Rechten, sondern die Anerkennung asymmetrischer Verantwortung für die Ursachen von Flucht und Migration. Der Andere hat ein Gesicht, bevor er eine Staatsangehörigkeit hat.

In der Demokratie: „Bürgerbeteiligung“ würde nicht bedeuten, dass Interessengruppen ihre Ansprüche durchsetzen, sondern dass Menschen gemeinsam Verantwortung für das Gemeinwesen übernehmen. Pluralismus als „Erfahrung der Andersheit“ statt populistische Verschmelzung.

Die Arbeit am Noch-Nicht

Die Gedanken scheinen utopisch und sind doch ganz praktisch.

Die Arbeit am Noch-Nicht zeigt sich in konkreter Begegnung. Menschen kommen in meine Beratung in existenziellen Situationen, die eine menschliche Antwort verlangen. Diese Antwort kann ich nicht geben, ohne selbst betroffen zu werden, ohne „Platz in meiner Existenz“ für sie zu schaffen.

Das ist anstrengend. Es ist unberechenbar. Es lässt sich nicht standardisieren. Aber es ist das Einzige, was hilft. Und es zeigt: Eine Gesellschaft, die auf ursprünglicher Verbundenheit statt auf strategischer Kooperation beruht, ist nicht nur philosophisch radikal – sie ist praktisch notwendig.

14. Juli 2025: Eine neue Revolution?

236 Jahre nach der Französischen Revolution stehen wir vor ähnlich fundamentalen Herausforderungen. Nicht mehr Feudalismus und Absolutismus bedrohen die Menschlichkeit, sondern Beschleunigungskapitalismus und ökologischer Kollaps.

Die Antwort kann nicht in besserer Technik oder effizienteren Märkten liegen. Sie liegt in einer anthropologischen Wende: der Erkenntnis, dass wir Menschen zuerst verantwortlich, dann frei sind. Dass Beziehung vor Autonomie kommt. Dass Ethik vor Politik steht.

Verletzlichkeit, Verantwortung, Gerechtigkeit – verstanden als geteilte Bedürftigkeit, stellvertretende Betroffenheit, asymmetrische Solidarität – könnten die revolutionären Ideale des 21. Jahrhunderts werden. Eine Revolution, die nicht mit Gewalt das Alte zerstört, sondern mit Beziehung das Neue schafft.

Am 14. Juli 1989 gründeten wir ein IT-Unternehmen mit den Idealen der Revolution von 1789. Am 14. Juli 2025 lädt uns Levinas ein zu einer Revolution, die noch radikaler ist: der Entdeckung, dass wir schon immer miteinander verbunden waren.

Dieser Artikel entsteht aus der intensiven Lektüre von Corine Pelluchons „Levinas verstehen“ und vierzig Jahren der Auseinandersetzung mit Emmanuel Levinas’ Philosophie – von der ersten Begegnung in Gert Haeffners Vorlesung an der Hochschule für Philosophie 1984 bis zum aktuellen Projekt einer „Konnektivistischen Psychologie“ für das 21. Jahrhundert.

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