Philosophie am Campo: Eine Venedig-Beobachtung
Levinas' "Leben von" in der konkreten Anschauung
Gegenüber im Türeingang sitzt ein Mann im Schatten, den Blick auf den Abfallkorb gerichtet, der in der Nähe einer Pizzeria steht. Jedes Mal, wenn jemand ein Stück Pizza wegwirft, steht er auf, holt sich das Stück und geht zurück auf seinen Schattenplatz, um es mit Genuss zu essen. Die Möwen beobachten ihn argwöhnisch - es ist ihr Jagdgebiet, in dem er plündert.
Diese kleine Szene am venezianischen Campo zeigt in lebendiger Anschauung, was Emmanuel Levinas philosophisch als "Leben von" beschreibt und wo Corine Pelluchon ihre entscheidende Kritik ansetzt.
Venedig August 2025 Campo Santa Margherita
Die Bleibe als Refugium
Der Türeingang ist mehr als bloße "Unterbringung" - er ist zur Bleibe geworden. Der Mann hat diesen Ort nicht zufällig gewählt: Er bietet Schatten (Schutz), Überblick (Kontrolle) und strategische Nähe zur Nahrungsquelle. Hier findet er das, was Levinas Refugium nennt - einen Ort, wo er "eine gewisse Intimität haben, sich sammeln" kann. Selbst unter extremsten Bedingungen zeigt sich diese fundamentale Struktur menschlichen Wohnens.
Das ist nicht das romantische Ideal der eigenen vier Wände, sondern die existentielle Grundstruktur: Jeder Mensch braucht einen Ort, der mehr ist als Funktion - einen Ort, der Würde ermöglicht.
Leben von: Rezeptivität statt Konstitution
Der Mann konstituiert seine Nahrung nicht - er empfängt sie. Er "badet" in der Möglichkeit des Weggeworfenen, ist eingetaucht in ein System touristischer Verschwendung, ohne es zu durchschauen oder zu beherrschen. Seine Existenz folgt dem Rhythmus anderer Bedürfnisse, anderer Sättigungen.
Und doch: Er isst mit Genuss. Das weggeworfene Pizzastück wird nicht zum bloßen "Kraftstoff" (wie Marx die entfremdete Nahrung der Arbeiter beschreibt), sondern behält seine "Würze". Selbst unter extremen Entbehrungen zeigt sich jene "originär mit der Tatsache zu leben verbundene Genussdimension", die Levinas gegen die Philosophien der Geworfenheit und des Seins-zum-Tode setzt.
Das Leben ist mehr als Überleben - es ist Leben-von, und Leben-von ist Genießen.
Die Möwen: Pelluchons ökologische Kritik
Aber da sind die Möwen. Sie zeigen mit ihrer argwöhnischen Beobachtung etwas, was Levinas übersehen hat: Es gibt keine "egoistische Unschuld" des Genießens. Das "Leben von" ist nie nur individuell, sondern immer schon relational, konkurrenzial, ökologisch verstrickt.
Corine Pelluchons Kritik wird hier sichtbar: "Unser Gebrauch der Lebensmittel ist von Anfang an ethisch", weil er Auswirkungen auf andere Lebewesen hat. Der Mann kann nicht unschuldig genießen - jeder Bissen, den er nimmt, ist einer weniger für die Möwen. Das weggeworfene Essen gehört zu einem städtischen Ökosystem, in dem Menschen, Vögel, Ratten um dieselben Ressourcen konkurrieren.
Die Möwen sind die lebende Widerlegung von Levinas' Trennung zwischen der "Welt der Nahrung" und der "ethischen Welt". Es gibt keinen vor-ethischen Raum des elementalen Lebens. Jedes "Leben von" ist bereits "Leben mit" - und damit ethisch verstrickt in die Asymmetrien des globalen Tourismus.
Venedig als philosophisches Labor
Diese kleine Szene zeigt, warum Venedig ein idealer Ort für philosophische Reflexion ist. Die Stadt selbst verkörpert die Dialektik von Innen und Außen, die Levinas beschreibt: Kanäle als elementales Baden, Inseln als Refugium, Brücken als Orte der Begegnung.
Aber Venedig zeigt auch die ökologischen Grenzen jeder Philosophie der Nahrung. Die Stadt versinkt, weil zu viele Menschen von ihr "leben" wollen. Der Overtourism macht sichtbar, was Pelluchon theoretisch entwickelt: In einer endlichen Welt kann es keine unschuldige Rezeptivität geben.
Die Konnektivistische Pointe
Für eine Konnektivistische Psychologie ist diese Beobachtung zentral: Das Gemeinschaftsgefühl (Adler) und die asymmetrische Verantwortung (Levinas) sind nicht erst sekundäre Entwicklungen des reifen Menschen, sondern bereits im elementalen "Leben von" angelegt.
Der Mann im Türeingang lebt von der Stadt, mit den Möwen, für das nächste weggeworfene Pizzastück. Seine Existenz ist konnektiv - verwoben in ein Netz von Beziehungen, auch wenn er diese nicht reflektiert.
Die Möwen lehren uns: Ursprüngliche Verbundenheit ist nicht harmonisch, sondern konflikthaft. Das macht sie nicht weniger real - es macht sie ethisch dringlich.
Perversion der elementalen Ordnung
Diese kleine venezianische Szene zeigt eine dreifache Perversion: Ein Mensch, der von Müll leben muss. Wildvögel, die Abfalleimer als Nahrungsquelle betrachten. Eine Stadt, die ihre eigenen Bewohner durch Tourismus verdrängt und gleichzeitig ökologisch kollabiert.
Was Levinas als "Wahrheit der sinnlichen Welt" beschreibt - das elementale "Leben von" - wird hier zur Karikatur seiner selbst. Die Nahrungen, die "meiner Existenz Sinn und Würze geben" sollen, werden zu Resten einer Überflussgesellschaft, um die Menschen und Tiere konkurrieren müssen.
Aber selbst in dieser Perversion zeigt sich etwas von dem, was Levinas Genuss nennt. Der Mann isst mit Würde. Die Möwen beharren auf ihrem Recht. Das Leben weigert sich, nur Überleben zu sein.
Vielleicht ist das die Philosophie des 21. Jahrhunderts: Lernen, die Würde des elementalen Lebens auch dort zu erkennen und zu verteidigen, wo es durch globale Verwüstung zur Groteske geworden ist.
Diese Beobachtung entstand im Rahmen der systematischen Lektüre von Corine Pelluchons "Levinas verstehen" und dokumentiert, wie philosophische Begriffe in der konkreten Anschauung ihre existentielle Bedeutung entfalten.