Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit
Lichthof, Diözesanmuseum Freising. Die Inschrift läuft oben, unten Turrells leuchtendes Portal.
Wiederkehr nach 51 Jahren
Der Nebel hängt tief über dem Domberg an diesem Novembertag. Gut so. Er dämpft, verhüllt, macht aus der Stadt da unten eine Ahnung. Was hier oben geschieht, braucht diese Abgeschiedenheit.
TIMOR DOMINI PRINCIPIUM SAPIENTIAE – die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit. Die Inschrift aus den Sprüchen läuft über die mittlere Galerie des Lichthofs in diesem klassizistischen Bau von Matthias Berger aus dem Jahr 1869. Vor 51 Jahren ging ich hier auf dem Domberg zur Schule, ins Domgymnasium. Anderes Gebäude, derselbe Ort, dieselbe Atmosphäre. Heute ist das Berger-Bau-Museum nach neunjähriger Generalsanierung seit Oktober 2022 wiedereröffnet. Die zweitgrößte Kunstsammlung der katholischen Kirche weltweit, nach den Vatikanischen Museen.
Ich komme nicht als Gläubiger. Aber auch nicht als Tourist. Eher als jemand, der nach etwas sucht, ohne genau zu wissen, wonach.
Wenn das iPhone kapituliert
Zuerst die Hauskapelle, jetzt James Turrells Ganzfeld »A Chapel for Luke and his scribe Lucius the Cyrene«. Eine Museumswächterin begleitet uns – es sind schon manche von der Treppe gefallen, sagt sie. Ein paar Stufen führen hinauf in einen Raum, der keine Grenzen zu haben scheint. An der Stirnwand schwebt eine leuchtende Form – rosa, pfirsichfarben, mit einem zweiten, helleren Kreis dahinter. Zwei Besucherinnen sitzen auf einer Bank davor, schweigend.
Ich versuche zu fotografieren. Das iPhone kollabiert sofort. Es sucht verzweifelt nach etwas, woran es fokussieren könnte, findet nichts, mittelt alles zu einer homogenen blauen Fläche. Später mit der Leica Q3 gelingt es besser – die Kamera fängt zumindest Nuancen ein, Farbverläufe, eine Ahnung von räumlicher Tiefe.
Aber was mein Auge dort sieht, lässt sich nicht festhalten.
Das ist Turrells Punkt. Der 1943 in Los Angeles geborene Künstler arbeitet seit über 50 Jahren ausschließlich mit Licht. Nicht Licht auf etwas, sondern Licht selbst. »My works are not about light, they are light«, sagt er. Der Ganzfeld – ein Begriff aus der Wahrnehmungspsychologie – erzeugt ein vollständig homogenes Gesichtsfeld. Alle architektonischen Merkmale lösen sich auf, die Tiefenwahrnehmung verschwindet.
Man muss Zeit mitbringen. Das Auge adaptiert, sucht, tastet. Was zuerst wie eine flache Scheibe an der Wand aussieht, beginnt zu schweben, sich zu verschieben, Raum zu werden. Die Fotografie scheitert daran, weil sie einen Moment einfriert. Aber Turrells Arbeit existiert in der Zeit, in der Wahrnehmung, nicht auf der Speicherkarte.
James Turrell: “A Chapel for Luke and his scribe Lucius the Cyrene”. Man muss Zeit mitbringen
Ich denke an die Inschrift im Lichthof. Die Furcht des Herrn. Nicht Angst vor Strafe, sondern Ehrfurcht. Die Anerkennung von etwas, das sich dem schnellen Zugriff entzieht. Das iPhone will fokussieren, kategorisieren, besitzen. Es kennt nur einen Modus. Deshalb scheitert es.
Modi der Aufmerksamkeit
Von der Immaterialität des Lichts zur Materialität der Farbe. Judith Milbergs Arbeiten begleiten den Gang um den zweiten Stock. Ihre Installation »Imagine all the Pieces« – 24 Tafeln in vier Sechsergruppen – schüttet pigmentierte Tusche auf Holz, reibt Pastellkreiden mit den Händen tief ins Material. Amorphe Formen wachsen, organische Stränge verschlingen sich, Gelb, Rot, Schwarz pulsieren.
Der konzeptuelle Anspruch ist groß: Urknall, Entstehung des Universums, Entwicklung der Erde. Aber bei aller physischer Präsenz bleibt es dekorativ. Die Farbharmonien sind zu kalkuliert, die Kompositionen zu ausgewogen. Aus der Distanz des Lichthofs betrachtet werden die Arbeiten zu farbigen Akzenten, die mit der strengen klassizistischen Architektur konkurrieren müssen – und dabei ihre Wirkung verlieren.
Was als grenzenloser Prozess gedacht ist, fügt sich zu brav in die museale Ordnung. Der Unterschied zu Turrell wird spürbar: Seine Arbeit entzieht sich, kann nicht besessen werden. Sie verlangt eine andere Form der Aufmerksamkeit.
Judith Milbergs "Imagine all the Pieces" im Lichthof. Zeitgenössische Malerei in klassizistischer Architektur.
Ich merke, wie ich selbst verschiedene Modi durchlaufe. Vor Milbergs Bildern bleibe ich kunsthistorisch-analytisch. Ich bewerte, vergleiche, ordne ein. Vor Turrell geht das nicht. Da muss ich einfach dasitzen und warten.
Gesichter, die heute sein könnten
Die Sonderausstellung »Göttlich« führt zuerst in einen abgedunkelten Raum. An der Stirnwand läuft eine Projektion – Dantes Inferno in wechselnden Bildern, gespiegelt in einer großen Glasfront. Menschen stehen als Silhouetten davor, absorbiert von den Visionen der Hölle. Das diffuse Blau durchdringt alles, macht aus der Betrachtung selbst ein visionäres Erlebnis.
Dann, in einem der kleinen Säle, die illuminierte Handschrift der Divina Commedia von 1449, aus der Biblioteca Apostolica Vaticana. Die Farben auf dem Pergament – Blau, Rot, Gold – leuchten trotz der 576 Jahre.
Und schließlich: Sandro Botticellis »Maria mit Kind (Madonna mit dem Buch)«, 1480/81. Das Christuskind erkennt beim Lesen seine biblische Vorbestimmung als Messias – sein Schicksal ist bereits in den Nägeln und der Dornenkrone vorweggenommen. Es wendet sich zur Mutter, die Geste zwischen Verstehen und Erschrecken. Der goldene Rahmen mit seinen mehrfach gestaffelten Ornamenten ist Renaissance-Pracht.
Aber was mich trifft, ist Antonio de Salibas Kopie von Antonellos »Annunciata«. Das Gesicht dieser jungen Frau – olivfarbene Haut, schwarze Augen, raffinierte Züge – könnte heute sein. Keine idealisierte Heiligenfigur aus einer anderen Welt, sondern eine reale Person. Antonello eliminierte den Engel komplett aus der Darstellung. Nur Maria, das flatternde Buch, die vorgestreckte Hand.
Der Betrachter steht dort, wo Gabriel stehen würde. Wir werden Teil der Szene.
Antonio de Saliba nach Antonello: Annunciata. Kein Engel im Bild – nur sie, das Buch, die Geste. Ihr Blick geht nach innen.
Sonderausstellung “Göttlich” im Diözesanmuseum Freising.
Hier fordert die Aufmerksamkeit etwas anderes: Komm nahe. Schau genau. Sieh dieses Gesicht, diese Geste. Die Distanz zwischen 1475 und 2025 kollabiert. Die Zeit wird durchlässig.
Ein Schutzraum am Rand
Nach der Kunstdichte des Museums der Gang zur Außenkapelle. »The Chapel of Mary’s Mantle« von Kiki Smith steht am Rand des Dombergs, eine begehbare Skulptur. Ein dunkler Monolith, vier mal vier Meter im Grundriss, aus wiederverwendeten Dachziegeln gemauert – Biberschwänze, die über fünfzig Jahre lang das Dach der Pfarrkirche St. Georg in Ruhpolding bedeckten. Die Wände verjüngen sich nach oben zum ovalen Oberlicht. Ein goldener Stern, der Heilige Geist, schwebt im Zentrum, oben bricht das neblige Tageslicht herein.
Nach Turrells abstraktem Licht und Botticellis Renaissance-Perfektion ist das hier etwas Drittes: roh, haptisch, erdig.
Ich zünde eine Kerze an. Die kleine Flamme vor den dunklen Ziegelwänden. Man kann hier nur stehen. Die Kapelle hat keine seitlichen Fenster, nur das ovale Oberlicht. Das Licht kommt von oben, wie im Lichthof, wie bei Turrell. Alles hier organisiert sich vertikal.
Nicht dass wir nach oben steigen. Sondern dass etwas zu uns herabkommt. Das Licht fällt durch den Nebel, durch das Oval, in diesen engen Raum. Man muss nichts tun, außer da zu sein.
Kiki Smiths "Chapel of Mary's Mantle". Blick nach oben: wiederverwendete Biberschwanzziegel, der goldene Stern, das ovale Oberlicht.
Die Furcht des Herrn als Anfang der Weisheit – vielleicht meint das genau das: aufhören zu wollen, zu kontrollieren, zu besitzen. Stattdessen empfangen können.
Alles auf einmal
Zurück ins Museum. Der zentrale Lichthof mit seinen drei Arkaden-Ebenen, dem Glasdach, von dem diffuses Novemberlicht herabfällt. Oben laufen Milbergs organische Formen als farbiges Band um den Raum. In der Mitte die Inschrift: TIMOR DOMINI PRINCIPIUM SAPIENTIAE. Und dann, wie ein leuchtendes Portal, der Durchgang zum Treppenhaus, aus dem Turrells Blau-Violett hervorquillt.
Alle Zeitebenen auf einmal: die Renaissance-Inschrift, die zeitgenössische Malerei, das immaterielle Licht. Das Museum lässt sie nebeneinander bestehen, ohne dass sie sich gegenseitig auslöschen. Die Architektur wird zum Rahmen für Fragen, die über Epochen hinweg gestellt werden.
Nach Transzendenz. Nach Sinn. Nach dem Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem.
Ich bemerke, dass ich den ganzen Tag über zwischen verschiedenen Aufmerksamkeitsformen gewechselt bin. Vor Turrell: Warten, bis das Auge anfängt zu sehen. Vor Botticelli: nahe herangehen, das Gesicht dieses Kindes betrachten, das sein Schicksal begreift. In Smiths Kapelle: eintreten, dasitzen, den Stern schweben lassen, das Licht durch den Nebel kommen lassen. Draußen im Nebel selbst: die Verhüllung akzeptieren, nicht alles muss sichtbar sein.
Keiner dieser Modi ist der richtige oder falsche. Aber jeder ist notwendig für das, was er erschließt.
Was sich entzieht
51 Jahre sind vergangen, seit ich als Zehnjähriger hier zur Schule ging. Das Gebäude hat sich verwandelt, aber die Fragen bleiben. Die Furcht des Herrn als Anfang der Weisheit – ich verstehe sie jetzt nicht als religiöses Dogma, sondern als Erfahrungshinweis.
Es gibt Dinge, die sich dem schnellen Zugriff entziehen. Die nicht fotografierbar sind, nicht besitzbar, nicht auf einen Blick zu erfassen. Die Zeit brauchen. Stille. Eine Bereitschaft, verschiedene Formen der Aufmerksamkeit zuzulassen.
Das iPhone scheitert an Turrell, weil es nur fokussieren, messen, festhalten kann. Wir scheitern an vielem im Leben aus demselben Grund. Wir wollen haben, kontrollieren, verfügbar machen. Dabei entgeht uns, was nur im Loslassen zugänglich wird.
Die Weisheit beginnt vielleicht genau dort: in der Einsicht, dass verschiedene Phänomene verschiedene Aufmerksamkeitsformen verlangen. Und dass manche der wichtigsten Erfahrungen – Schönheit, Berührung, Verbundenheit – sich nur dem öffnen, der bereit ist zu warten.
Bereit ist, vor einem Licht zu sitzen, das man nicht festhalten kann. Bereit ist, ein Gesicht aus dem 15. Jahrhundert so anzuschauen, als wäre es heute. Bereit ist, in eine Ziegelkapelle einzutreten und nach oben zu schauen, wo durch den Nebel etwas hereinkommt, das man nicht bestellt hat.
Das Diözesanmuseum Freising ist kein Ort für den schnellen Durchgang. Es ist ein Ort zum Wiederkommen. Nicht weil man dort Antworten findet, sondern weil man lernt, mit Fragen zu leben, die sich nicht auflösen lassen.
Der Nebel liegt immer noch über dem Domberg, als ich gehe. Ich habe keine Fotos, die funktionieren. Aber vielleicht ist das der Punkt.
Ein Hinweis: Für den Besuch genau schauen, wann die Turrell Installation begehbar ist. Über Mittag ist sie geschlossen.