Die Rialto-Brücke und unsere Demokratie: Eine Meditation über Verletzlichkeit

Venedig, August 2025

Die Szene

Für Besorgungen musste ich gestern über die Rialto-Brücke. Es gibt nur drei Brücken über den Canal Grande – und wenn Vaporetto und Traghetti überfüllt sind, ist die Brücke das kleinste Übel.

Sehr viele Touristen drängen sich Schulter an Schulter, jeder das Smartphone gezückt für das perfekte Selfie. Alle sind gekommen, um die „verletzlichste Stadt der Welt“ zu sehen – eine Stadt, die buchstäblich im Meer versinkt, deren Fundamente von Salzwasser zerfressen werden, deren Bewohner vor dem Ansturm fliehen.

Aber niemand SIEHT diese Verletzlichkeit.

Stattdessen: Eroberungsfotos. „Ich war da!“ Die 10 Euro Eintrittsgebühr? Keine Einladung zur Achtsamkeit, sondern eine Lizenz zum Konsum: „Ich habe bezahlt, also gehört mir für heute die Stadt!“

Mich über mich selbst ärgernd remple ich mir den Weg frei durch das Gewühle und wieder zurück. Endlich wieder in ruhigeren und schattigen Gassen, denke ich darüber nach, warum mich das so aufregt und ich nicht gelassen bleiben kann. Vielleicht, weil es um mehr geht als um eine überfüllte Touristenattraktion?

Es geht ums Raum nehmen. Jeder nimmt sich, was er braucht – den besten Platz für das Foto, die ganze Breite der Brücke für die Gruppe, die Aufmerksamkeit für das perfekte Selfie. „Ich habe bezahlt, also steht mir das zu.“

Diese Logik kenne ich. Nicht nur auf der Rialto-Brücke.

Raum nehmen funktioniert überall gleich: Interessengruppen besetzen die Deutungshoheit. Konzerne kaufen sich politischen Einfluss. Parteien beanspruchen das „wahre Volk“ für sich. Dahinter dieselbe Haltung: "Wer zahlt, schafft an!“

Das Paradox der monetarisierten Verantwortung

Darin zeigt sich eine abstruse Netflix-Logik: Bezahlt, also berechtigt. Monatsbeitrag bezahlt – das sind die Steuern. Unlimited Streaming freigeschaltet – das sind die Rechte. Keine weiteren Verpflichtungen. Bei Nichtgefallen gibt’s den »Gefällt mir nicht«-Button – das ist dann die Protestwahl.

Die Perversion dabei: Je mehr ich zahle, desto mehr »gehört« mir – glauben wir. So wird aus moralischer Verantwortung ökonomische Transaktion. So wird aus geteiltem Raum privater Anspruch.

Das vergessene Fundament

Ein kluger Beobachter schrieb einmal: Nach Generationen erfolgreicher Demokratie vergessen die Menschen, was diese gesellschaftliche Ordnung von ihnen verlangt. Sie sehen nur noch, worauf sie ein Anrecht haben.

Das ist unser Problem. Wir konsumieren Freiheit wie Touristen Venedig konsumieren. Wir genießen Rechte, ohne Verantwortung zu übernehmen. Wir machen Selfies vor der Demokratie, statt sie zu leben.

Und vielleicht kommen wir hier zum Kern des Problems. Demokratie lebt von dem, was sie selbst nicht garantieren kann. Von unserem täglichen ethischen Engagement.

Von der Rechte-Demokratie zur Verantwortungs-Demokratie

Die liberale Demokratie hat uns ein Versprechen gemacht. Deine Rechte werden geschützt. Deine Freiheit wird garantiert. Dein Eigentum wird gesichert.

Aber sie hat eine Voraussetzung verschwiegen: Ohne aktive Bürger, die Verantwortung übernehmen, wird Demokratie zur leeren Hülle.

Emmanuel Levinas formulierte es bereits 1934 radikal: „Der Mensch gefällt sich in der Freiheit und lässt sich nicht endgültig auf irgendeine Wahrheit ein.“ Wir genießen die Freiheit narzisstisch, aber weigern uns, uns zu binden – an Wahrheit, an Verantwortung, an die Anderen. Wenn wir Wahrheit und Verantwortung nicht mehr als Richtschnur akzeptieren, beginnt die Abwärtsspirale. Dann gehorcht jeder nur noch seinen eigenen Regeln.

Die neue/alte Gefahr

Wenn Demokratie zur leeren Hülle wird, ziehen andere Kräfte ein. Die »starken Männer« versprechen einfache Antworten statt komplexer Verantwortung. »Wir zuerst« statt geteilter Verletzlichkeit. Mystische Identität – »das wahre Volk“ – statt mühsamer Aushandlung.

Von Italien bis Ungarn, von den USA bis Indien: Die Sehnsucht nach dem »starken Führer« wächst proportional zu unserer Weigerung, selbst Verantwortung zu übernehmen.

Wenn die Wahrheit verschwindet

Max Weber warnte schon früh – und Pelluchon zitiert ihn heute: „sobald die Wahrheit verschwunden ist, gehorcht jeder seinem Gott oder seinem Dämon. Und derjenige, der zur Gewalt greifen wird, wird seinen Willen durchsetzen.“

Die Touristen auf der Rialto-Brücke zeigen genau das: Tausend individuelle Instagram-Stories, keine gemeinsame Wirklichkeit. Jeder folgt seinem eigenen Algorithmus, konstruiert sein eigenes Venedig-Narrativ. Die reale Verletzlichkeit der Stadt verschwindet hinter den Filtern. Und wer am lautesten ist und rücksichtslos drängt, bekommt den besten Platz.

»Alternative Fakten« sind salonfähig geworden. »Das ist meine Wahrheit« ersetzt das Argument. Jeder in seiner algorithmischen Filterblase. Fake News gegen Fake News – wer soll da noch durchblicken?

Die Revolution der geteilten Verletzlichkeit

Levinas hatte eine andere Idee: Unsere Verbindung entsteht nicht durch Stärke oder gemeinsame Identität, sondern durch geteilte Verletzlichkeit. Die französische Philosophin Corine Pelluchon geht noch weiter. Echte Verantwortung entsteht, wenn wir anerkennen, dass wir alle voneinander abhängig sind – Menschen untereinander, aber auch von der Erde, die uns trägt.

Venedig könnte uns das zeigen. Diese Stadt ist verletzlich. Die Touristen sind es auch – abhängig von ihrer Schönheit, angewiesen auf ihre Existenz. Diese geteilte Fragilität könnte uns verbinden.

Aber: Die Stadt zerbröselt und versinkt, die Touristen fotografieren. Die Verbindung wird auf 10 Euro reduziert.

Pelluchon zeigt den Ausweg. Echte Verantwortung entsteht nicht durch Stärke, sondern durch die Anerkennung geteilter Verletzlichkeit. Venedig ist verletzlich. Die Touristen sind es auch. Diese geteilte Fragilität könnte zur Verantwortung führen – statt zur Ausbeutung.

Für die Demokratie gilt dasselbe. Nicht »starke Führer« retten uns, sondern die Anerkennung unserer gemeinsamen Verletzlichkeit. Wir sind alle anfällig für Manipulation, alle auf funktionierende Institutionen angewiesen, alle verletzlich. Und aus dieser geteilten Fragilität erwächst Verantwortung füreinander und für das Ganze.

Von Touristen zu Hütern

Seit gestern rempeln mich drei Fragen an und nehmen viel Raum in mir ein:

Die Selfie-Frage: Bevor ich das nächste Mal mein Recht einfordere - was ist meine Verantwortung in dieser Situation?

Die Venedig-Frage: Kann ich die Verletzlichkeit sehen - die eigene und die der Anderen? Nicht als Schwäche, sondern als Verbindung?

Die Demokratie-Frage: Unterstütze ich die, die Stärke inszenieren, oder die, die Verletzlichkeit anerkennen und trotzdem (oder gerade deshalb) Verantwortung übernehmen?

Die Touristen auf der Rialto-Brücke werden weitermachen wie bisher. Die Frage ist: Müssen wir es auch?

Die ironische Wendung

Und hier wird es paradox: Auch dieser Text über Verletzlichkeit ist selbst eine Form der Aneignung. Ich verwandle Venedig in philosophisches Material, mache Touristen zu Fallstudien für Demokratie-Kritik, ästhetisiere das Problem, das ich kritisiere.

Die "ursprüngliche Konflikthaftigkeit" macht auch vor der philosophischen Ethnografie nicht halt. Aber vielleicht ist genau das der Punkt: anerkennen, dass wir alle verstrickt sind – und trotzdem (oder gerade deshalb) Verantwortung übernehmen.

Demokratie ist kein Netflix-Abo. Sie ist so fragil wie Venedig – und so kostbar. Beide überleben nur, wenn wir von Konsumenten zu Hütern werden.

Nicht für 10 Euro. Sondern aus Einsicht in unsere geteilte Verletzlichkeit.

Teil 2 der Venezianischen Philosophischen Ethnografie-Studien. Diese Beobachtungen entstanden während der systematischen Auseinandersetzung mit Emmanuel Levinas’ Ethik der Alterität und Corine Pelluchons Erweiterung zur ökologischen Verantwortung. Teil 1 behandelte die elementare Struktur des "Leben von“ anhand konkreter Straßenbeobachtungen.

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